Die Betroffenenberatung Niedersachsen hat 2024 in über 400 Beratungsgesprächen unterstützt und neben Nachmeldungen aus den Vorjahren fast 70 neue rechte, rassistische und antisemitische Angriffe mit Tatdatum 2024 aufgenommen. Im Schnitt wurde alle fünf Tage ein neuer Angriff von rechts registriert. Besonders erschütternd: Ein Viertel der Betroffenen war noch minderjährig.
Insgesamt 68 neue Fälle mit 84 direkt Betroffenen hat das Monitoring der Betroffenenberatung Niedersachsen für das Jahr 2024 aufgenommen. Bei über einem Drittel der Angriffe lautete das Haupttatmotiv erneut Rassismus (24). Doch auch in zahlreichen weiteren Fällen wurden Menschen angegriffen, weil sie nicht ins rechte Weltbild passen: Politische Gegner*innen (17) und Nicht-Rechte (7), Menschen aus der LGBTQIA*-Community (9) sowie Wohnungslose (4). Sechs Angriffe, darunter ein Brandanschlag, waren antisemitisch motiviert.
Beratungsbedarf weiterhin hoch: Fast acht Beratungen pro Woche
„Die Zahlen zeigen: Der Bedarf an Unterstützung bleibt hoch – Woche für Woche“, sagt Pressesprecherin Anna Eschbaum. Denn die Folgen dieser Angriffe sind für Betroffene so langfristig wie vielfältig: rechtliche Unsicherheiten, finanzielle Belastungen, soziale Isolation und ganz besonders: (teils bleibende) körperliche wie mentale Verletzungen.
Umso wichtiger ist eine schnelle und verlässliche Unterstützung: 402 Mal im Jahr hat die Betroffenenberatung Niedersachsen zugehört, begleitet und unterstützt – etwa bei Entlastungsgesprächen zur Verarbeitung der Angriffsfolgen, bei der Begleitung zu medizinischen oder juristischen Terminen, in der Kommunikation mit Behörden oder bei der Beantragung von Entschädigungsleistungen wie Schmerzensgeld.
Ein Viertel der Betroffenen minderjährig
Auch Kinder und Jugendliche wurden 2024 regelmäßig Opfer rechter Gewalt. Unter den Betroffenen waren mindestens 21 Minderjährige. „Sie wurden von Vermieter*innen, Nachbar*innen oder Mitschüler*innen massiv rassistisch bedroht, auf der Straße oder im Supermarkt angerempelt und sogar körperlich angegriffen“, führt Eschbaum aus. Grund für die hohe Betroffenenanzahl unter Minderjährigen sei neben einer allgemein sinkenden Hemmschwelle auch die immer jüngere Täter*innenschaft, die sich gerade im Süden Niedersachsens in sehr jungen, klar rechts stehenden Gruppierungen organisiere.
Angriffe im privaten Umfeld besonders belastend
Gewalt, die im Schul-, Arbeits- oder Wohnumfeld stattfindet, gehe besonders stark mit psychischen Belastungen einher, wie Eschbaum betont: „Betroffene fühlen sich gefangen und können kaum räumliche Distanz zu den Täter*innen aufbauen, weil ein Umzug, Schul- oder Jobwechsel nicht immer möglich ist.“ Als eine alleinerziehende Mutter mit ihren Kindern von ihrem Vermieter aus antiziganistischen Motiven über einen langen Zeitraum schikaniert, wiederholt verbal und schließlich körperlich angegriffen wurde, war ein Umzug für die Familie allerdings unvermeidbar.
Antisemitische Vorfälle in Oldenburg
Gewalt im Alltag hat auch eine Schülerin in Oldenburg erfahren. Auf ihrem Schulweg wurde sie von zwei Tätern festgehalten, bedroht und antisemitisch beschimpft. „Wenn alltägliche Wege zur Schule, zum Job oder auch zum Hobby nur noch unter großer Angst gegangen werden können, ist das ein massiver Einschnitt in den Alltag der Betroffenen“, erklärt Eschbaum weiter.
Am Tag danach wurde ein Brandanschlag auf die Oldenburger Synagoge in der Leo-Trepp-Straße verübt. Verletzt wurde niemand. Nach einem Fahndungsaufruf bei „Aktenzeichen XY… ungelöst“ konnte der Täter schließlich festgenommen werden. Anfang Juni beginnt das Verfahren gegen den 27-Jährigen.
Politisch engagierte, queere und Schwarze Menschen besonders im Visier
Die politisch aufgeheizte Stimmung durch das Erstarken rechter Parteien und Positionen hatte auch in Niedersachsen spürbare Auswirkungen: Immer häufiger wurden politische Gegner*innen bedroht und angegriffen. In drei Fällen kam es sogar zu gefährlicher Körperverletzung.
In Zeiten, in denen rechte Akteure zunehmend rassistische Narrative in öffentliche Debatten tragen, wachse ein gesellschaftliches Klima der Ausgrenzung, wie Eschbaum meint: „Und Menschen, die ohnehin strukturell benachteiligt oder marginalisiert sind und damit im Visier rechter Gewalt stehen, erhalten noch weniger Schutz.“ Dies bestätigt sich auch mit Blick auf das Haupttatmotiv Rassismus. Im April kam es nahe Osnabrück etwa zu einem rassistischen Tötungsversuch in einem Zug, bei dem ein Betroffener mit einem Schraubenzieher angegriffen und schwer verletzt wurde. Seine rechte Gesinnung stellte der Täter dabei offen zur Schau.
Insbesondere rund um die landesweiten Demonstrationen zum Christopher Street Day kam es darüber hinaus zu mehreren Angriffen gegen die LGBTQIA*-Community. So wurde eine Person in Gifhorn von mehreren Männern mit Tritten gegen Kopf und Rumpf verletzt. Die Täter waren zuvor als Gegendemonstranten des CSD in Wolfsburg aufgefallen.
Erstkontakt über die Polizei oft entscheidend
Nach diesen Erlebnissen ist für Betroffene ein frühzeitiger Kontakt zur Beratungsstelle entscheidend. Dafür ist das Team auf die Kooperation mit der Polizei angewiesen. „Leider gibt es noch keine verbindliche Verweisstruktur seitens der Polizei“, sagt Kara Evers, Koordinationsleitung der Betroffenenberatung. „Viele Betroffene berichten, dass sie die Unterstützung wesentlich früher, nämlich unmittelbar nach dem Angriff gebraucht hätten, um das Erlebte zu verarbeiten – doch sie wurden nicht an uns weitervermittelt.“
Dies zeigt sich auch im Abgleich mit den vom Niedersächsischen Innenministerium veröffentlichten Zahlen zur politisch motivierten Kriminalität (PMK): Trotz intensiver Recherchen konnte die Betroffenenberatung nicht alle Vorfälle rechter Gewalt, die offiziell erfasst wurden, identifizieren. „Ohne öffentlich zugängliche Informationen zu rechten Angriffen, etwa durch Polizei-Pressemeldungen, bleiben viele Taten weitgehend unsichtbar“, erklärt Evers. Das habe direkte Folgen für Betroffene: „Unsere Beratungsteams können dann nicht proaktiv Kontakt aufnehmen, sodass einigen Betroffenen der Zugang zu dringend benötigter Unterstützung verwehrt bleibt.“
Betroffenenberatung fordert verlässliche Kooperation
Wir fordern deshalb: Für den Kampf gegen rechte Gewalt brauchen wir verbindliche Strukturen, eine klare Haltung und die Solidarität einer Gesellschaft, die Betroffene schützt – und nicht erst handelt, wenn es zu spät ist. Eine verbindliche Verweisstruktur, wie sie auch für andere Beratungsstellen bereits etabliert oder im Aufbau ist, kann ein zentraler Baustein sein, um Betroffenen schnell und unbürokratisch die Hilfe zukommen zu lassen, die sie dringend benötigen.
Rechte Gewalt zielt darauf ab, Menschen einzuschüchtern und ihnen Handlungsspielräume zu nehmen. Umso wichtiger ist es, dass involvierte Strukturen – von Einsatz- und Rettungskräften bis hin zu spezialisierten Beratungsstellen – wie auch die Zivilgesellschaft gemeinsam dafür sorgen, dass Betroffene im öffentlichen Diskurs und in ihren individuellen Bedürfnissen gestärkt werden. Sie sollten selbstbestimmt entscheiden können, welche Schritte sie gehen möchten. Das ist gelebter Schutz und echte Solidarität.
Hinweis: Seit Mitte 2023 beteiligen wir uns an dem bundesweiten Monitoring unseres Dachverbands VBRG. In diesem Zuge haben wir auch unsere Erfassungskriterien an die Vorgaben des VBRG angepasst. Die Zahlen der aktuellen Jahresstatistik sind somit nur eingeschränkt mit denen der Vorjahre vergleichbar. Weitere Informationen zum Monitoring finden Sie in der Anmerkung zur Infografik.
Wir freuen uns über Ihre Berichterstattung!
Pressekontakt:
Anna Eschbaum
Pressesprecherin
Betroffenenberatung Niedersachsen. Beratung bei rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt
0157 39397708
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